Wie das Wildschwein Deutschland eroberte

Wildschweine reissen Zäune ein, durchwühlen Gärten und wagen sich bis in Swimmingpools: Diese Tiere haben in Deutschland Fuß gefasst. Doch was ist das Geheimnis ihres Erfolges?

Ostfriesland galt lange als eine der letzten bastionen der Wildschweinfreiheit in Deutschland. Doch mittlerweile breiten sich die Tiere auch in dieser Region aus. Landwirte fürchten um ihre Ernte, während Jäger vor neuen Herausforderungen stehen, denn die intelligenten Tiere zeigen sich nicht leichtfüßig. Im Mais finden die Wildschweine nicht nur gute Deckung, sondern auch eine Delikatesse.

Gernold Lengert, der Kreisjägermeister von Aurich, versucht sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen. Dennoch schlägt eine gewisse Sympathie für die Tiere durch, wie er mit den Worten „Man hört sie schmatzen, aber man sieht sie nicht“ erklärt. Diese Unsichtbarkeit der Tiere macht die Jagd nahezu unmöglich, was zu einer raschen Vermehrung führt. Gemeinsam mit Landwirten sucht er nach Lösungen, beispielsweise durch das Schneiden von Schneisen in die Felder oder das Anlegen dieser bereits bei der Aussaat.

Wildschweine haben inzwischen nahezu ganz Deutschland besiedelt und scheuen sich nicht, den Menschen näherzukommen. Berichte über ihre Aktivitäten berichten von Vorfällen in Bad Dürkheim, wo sie auf einem Friedhof randalierten, sowie von Wildschweinen auf Autobahnen bei Lübeck, die kilometerlange Staus verursachten. Auch vor großen Städten wie Saarbrücken, Bochum, Dresden und Berlin machen sie nicht Halt.

Selbst eine tödliche Seuche wie die Afrikanische Schweinepest konnte das Wachstum der Wildschweinpopulation nicht aufhalten. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Bestände stark vermehrt, die Zahl der Tiere im Sommer wird auf über eine Million geschätzt. Aber was ist das Erfolgsgeheimnis dieser Tiere?

Oliver Keuling, Wildbiologe an der Tierärztlichen Hochschule Hannover, erklärt, dass Wildschweine „clever, vielseitig und flexibel“ sind. In den 1960er Jahren lebten Wildschweine hauptsächlich in Wildgehegen und auf einzelnen Waldgebieten. Ihr Lebensraum war von Nahrung und Versteckmöglichkeiten begrenzt.

Ab den 1970er Jahren beeinflusste eine tiefgreifende Wende in der Landwirtschaft ihren Lebensraum. Wiesen wurden umbrochen und Ackerflächen wurden dichter an die Wälder gerückt. Diese neuen landwirtschaftlichen Flächen boten Wildschweinen eine reichhaltige Nahrungsquelle sowie Schutz und ermöglichten ihnen, aus den Wäldern hinauszuziehen und neues Terrain zu erobern.

In den 1990er Jahren folgte eine weitere Wende, als bundesweit nur noch 00-Raps angebaut wurde, der keine Bitterstoffe enthielt. Rückstände der Rapsölproduktion konnten nicht mehr entsorgt werden, sondern wurden als Viehfutter verwendet. Diese veränderten Futterbedingungen führten zu einem weiteren Anstieg der Wildschweinpopulation. Auch der Klimawandel trägt zum Erfolg der Wildschweine bei, indem es ihnen erleichtert, ihren Nachwuchs durch die kalte Jahreszeit zu bringen.

Die weiblichen Wildschweine haben eine hohe Reproduktionsrate und bringen durchschnittlich acht Frischlinge pro Wurf zur Welt. Die Tiere erreichen oft bereits mit sechs Monaten das Geschlechtsreife, was angesichts der Verfügbarkeit von Nahrung zu einer schnelleren Fortpflanzung führt. Keuling merkt an: „Wildschweine in Deutschland haben die höchste Reproduktionsrate weltweit.“

Die Wildschweine haben gut gelernt, sich in ihrer Umgebung einzurichten und genießen eine Vielzahl an Nahrungsquellen. In den letzten Jahren hat es immer öfter Mastjahre gegeben, die die Nahrungsaufnahme der Wildschweine steigern. Das Wachstum ihrer Population hat auch Auswirkungen auf andere Tierarten, insbesondere Wölfe, deren Nahrung zu einem Drittel aus Wildschweinen besteht.

Dennoch gibt es Konflikte mit dem Naturschutz. In Regionen wie Ostfriesland gefährden Wildschweine den Schutz seltener Arten, indem sie jedes Nest plündern, das ihnen vor die Schnauze kommt. Dies führt dazu, dass eine Balance zwischen Landwirtschaft, Klimaschutz und Naturschutz immer wieder neu gefunden werden muss.

Philip Wienberg
Philip Wienberg

Co-founded Germany's first alcohol-free craft beer brand in 2018. Now a freelance Copywriter & Creative Director with 15+ years in top German ad agencies. Led teams of 30+ creatives, winning 100+ awards together - some even for real work, not just the award circuit.

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