Fossilien geben Wissenschaftlern die Möglichkeit, das Leben der Neandertaler besser zu verstehen. Neueste Analysen eines bemerkenswerten Knochenfundes deuten nun jedoch auf einen blutrünstigen Umgang mit den schwächsten Mitgliedern eines anderen Stammes hin.
Entdeckungen in den Goyet-Höhlen
Vor über einem Jahrhundert wurden in den Goyet-Höhlen in Belgien bedeutende Knochenfunde gemacht, die auf grausame Praktiken der Neandertaler hinwiesen. Diese verwendeten scharfe Werkzeuge, um die Körper von Verstorbenen zu zerlegen und sich von ihnen zu ernähren. Jüngste Untersuchungen der etwa 45.000 Jahre alten Knochen legen nahe, dass Neandertaler offenbar auch Frauen und Kinder eines verfeindeten Stammes verzehrten, um deren Population zu schwächen.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden kürzlich in der Fachzeitschrift „Scientific Reports“ veröffentlicht. Das Forscherteam erkannte, dass es sich bei den gefundenen Knochen um Körperteile von weiblichen und jungen Neandertalern handelte, nachdem es 101 Knochen wieder zu vollständigen Körpern zusammensetzte und eine genetische Analyse durchführte.
Einblicke in die Zusammensetzung der Überreste
Die Analyse ergab, dass die Überreste von insgesamt sechs Neandertaler-Körpern in der Höhle deponiert waren. Darunter befanden sich vier Frauen sowie zwei Kinder, von denen eines ein Baby war. Interessanterweise waren die Frauen nicht miteinander verwandt und wiesen eine kleinere und zierlichere Statur auf als der herkömmliche Neandertaler in dieser Region, so die Studie.
„Wir können nicht genau feststellen, warum diese Individuen ins Visier genommen wurden, aber die Zusammensetzung der Gruppe – vier erwachsene Weibchen und zwei unreife Individuen – ist zu spezifisch, um zufällig zu sein“, erklärte Quentin Cosnefroy, biologischer Anthropologe an der Universität Bordeaux in Frankreich und Hauptautor der Studie, im Gespräch mit „Live Science“.
Motivation hinter dem Kannibalismus
Es wird vermutet, dass die Neandertaler gezielt die Fortpflanzung rivalisierender Stämme störten, indem sie „schwächere Mitglieder einer oder mehrerer Gruppen aus einer benachbarten Region ins Visier nahmen“, folgern die Forscher in der Studie. Eine Hungersnot könnte auch als ein Grund für den Kannibalismus in Betracht gezogen werden.
Cosnefroy fügte hinzu: „Diese Individuen könnten aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen stammen, was bedeuten würde, dass der Kannibalismus in Goyet mehrere Ereignisse mit Beteiligung verschiedener Gruppen im Laufe der Zeit darstellen könnte. Alternativ könnten sie auch derselben Gruppe angehört haben und bei einem einzigen Ereignis getötet worden sein.“
Transport und Lagerung der Überreste
Des Weiteren betonte Cosnefroy, dass lebende Neandertaler einfacher zu transportieren seien als Leichname oder Leichenteile. Da die Knochenfunde vor allem Beinknochen umfassten, erscheint es plausibel, dass die Individuen lebend zur Goyet-Höhle gebracht und dort getötet wurden, wobei nur ausgewählte Leichenteile in der Kammer deponiert wurden.
Historischer Kontext des Kannibalismus
Bereits im späten 19. Jahrhundert fanden Archäologen die Höhlen von Goyet und entdeckten Knochenfragmente von Neandertalern. Diese Fragmente fielen durch spezielle Merkmale auf: Sichtbare Schnittspuren und -kerben auf den Knochen, die Ähnlichkeiten mit Zerlegespuren aufwiesen.
Diese Spuren ließen bereits damals Rückschlüsse auf die Ernährungsgewohnheiten der Neandertaler zu. Forscher schlussfolgerten, dass die Neandertaler vor etwa 45.000 Jahren ihre Artgenossen zerkleinerten und konsumierten.
Die Neandertaler, die in der Höhle gefunden wurden, gehörten zu den letzten ihrer Art in Europa. In jener Zeit drang der Homo sapiens, der moderne Mensch, zunehmend in das Gebiet der Neandertaler vor.









